ZHAW Soziale Arbeit
Schweizer Jüdinnen und Juden fühlen sich zunehmend bedroht
Im vergangenen Jahr kam es weltweit zu mehreren antisemitisch motivierten Gewalttaten mit Todesfolge. Ebenso stellte eine Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) fest, dass generell Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens in Europa zunehmen. Vor diesem Hintergrund untersuchte das Departement Soziale Arbeit der ZHAW in einer schweizweiten Befragung nun erstmals, wie Jüdinnen und Juden hierzulande Antisemitismus erfahren und wahrnehmen. Insgesamt haben 487 Personen an der Umfrage teilgenommen. Diese entstand in Zusammenarbeit mit der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Die Umfrage wurde mehrheitlich online durchgeführt. Die Schweizer Studie lehnt sich eng an jene der FRA aus dem Jahr 2018 an, um Vergleichsdaten zu erhalten.
Opfer von Belästigung und Diskriminierung
Rund die Hälfte der Befragten gab an, in den
letzten fünf Jahren real oder online antisemitisch belästigt worden zu sein. Fast drei Viertel gehen davon
aus, dass Antisemitismus ein zunehmendes Problem darstellt. «Diese Zahlen zeigen deutlich, dass
Antisemitismus in der Schweiz existiert und den Alltag der hier lebenden Jüdinnen und Juden prägt», sagt
Studienleiter und Leiter des ZHAW-Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention,
Weitaus am häufigsten erfahren Menschen jüdischen Glaubens Antisemitismus im Internet und dort in den Sozialen Medien. Fast neun von zehn Befragten sind der Meinung, dass Antisemitismus in diesem Bereich zugenommen hat, und fast 50 Prozent der Befragten wurden Zeuge davon, wie Jüdinnen und Juden online beleidigt oder bedroht wurden. Physische Gewalt wie Körperverletzungen oder Tätlichkeiten erfuhren sie hingegen selten. Am häufigsten berichten streng-orthodoxe Jüdinnen und Juden davon, Übergriffe erlebt zu haben: Nahezu alle wurden in den vergangenen fünf Jahren Opfer einer Form von Belästigung. Ein Sechstel von ihnen berichtet ausserdem von Sachbeschädigungen und Gewalterfahrungen.
Was antisemitische Diskriminierung im Alltag angeht, berichteten 16,2 Prozent von mindestens einem Erlebnis in den letzten 12 Monaten. Vor allem in drei Bereichen zeigen sich erhöhte Diskriminierungswerte: an Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen, am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche. Dabei geht es weniger um Einschränkungen des religiösen Lebens oder religiöser Praktiken als um subtilere Formen der Diskriminierung. «Der Bildungs- und der Arbeitsbereich stellen damit wichtige Felder zukünftiger Präventionsarbeit dar», ist Dirk Baier überzeugt. «Besonders nachhaltig und verletzend wirken diskriminierende Äusserungen auf die Betroffenen, wenn sie subtil daherkommen, etwa in alltäglichen Situationen», so Dominic Pugatsch, Geschäftsführer der GRA.
Sicherheitsgefühl schwindet
Die Erfahrungen, welche sich in der Umfrage zeigen, wirken sich auf das Sicherheitsgefühl der jüdischen Bevölkerung aus. So meidet fast jeder dritte Befragte zumindest manchmal jüdische Veranstaltungen beziehungsweise Stätten oder andere Örtlichkeiten in der Heimatstadt, weil er oder sie sich auf dem Weg dorthin nicht sicher fühlt. Rund ein Fünftel fürchtet sich davor, in den kommenden 12 Monaten im öffentlichen Raum verbal angegriffen zu werden. Jüngere Jüdinnen und Juden (16- bis 44-jährig) und solche mit einer starken jüdischen Identität fürchten sich häufiger und zeigen häufiger Vermeidungsverhalten als andere Altersgruppen oder liberaler eingestellte Befragte.
Fast zwei Drittel sprachen sich dafür aus, dass die Behörden zukünftig aufmerksamer die Sicherheitsbedürfnisse der jüdischen Bevölkerung beachten sollten. «Die Politik sollte daher noch stärker den Dialog mit den jüdischen Gemeinden suchen und rasch Lösungen anbieten. Das belegen die Ergebnisse deutlich», sagt Dirk Baier.
Häufiger Verzicht auf Anzeige
Nur rund ein Drittel der Befragten gaben an, dass sie das Erleben beleidigender oder bedrohlicher Kommentare der Polizei oder einer anderen Stelle gemeldet hätten. Das bedeutet, dass zwei Drittel dieser Taten im Dunkeln bleiben; bei Sachbeschädigungen oder physischer Gewalt sind die Melderaten deutlich höher, die Dunkelziffer entsprechend kleiner.
Ein spezifischer Tätertypus kann nicht identifiziert werden, teilweise ist die Täterschaft den Opfern auch unbekannt. «Anhand der Befunde kann nicht gefolgert werden, dass nur Muslime oder politisch rechtsgesinnte Personen Antisemitismus ausführen. Dieser scheint stattdessen eher aus der Mitte der Gesellschaft zu kommen», sagt Dirk Baier.
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